Teil 1 Kapitel 1, Seite 21 ff
Wenn Heiligkeit die Beziehung zu Gott ist, dann ist eine Grundvoraussetzung dafür ein Leben mit Gott. Vor vielen Jahren erzählte einmal ein Prediger in unserer Kirche: Immer, wenn er am Morgen aus dem Haus gehe, bete er: "Du bist bei mir, bleibe Du bei mir". Ich habe diese Predigt zunächst vergessen. Vor einiger Zeit, als ich mich aufmachte meinen Glauben wieder etwas intensiver zu leben, kam sie mir plötzlich wieder in den Sinn. Ja ich merkte, dass diese Predigt eines der Schlüsselerlebnisse meines Lebens war. Auf dem Weg zur Heiligkeit geht es doch zuerst einmal darum, sich Gott überhaupt bewusst zu werden. Heiligkeit wäre dann, immer und jederzeit im Bewusstsein der Gegenwart Gottes zu leben. "Du bist bei mir, Gott!" Diese Feststellung sollte mich eigentlich immer begleiten. Unser Glaube lehrt die Allgegenwart Gottes. Wenn ich heute darüber nachdenke, was das bedeutet, dann geht mir auf, dass es eigentlich nichts anderes ist als dieses "Du bist bei mir!" - gültig für jeden Menschen in jeder, auch der banalsten Situation. "Du bist bei mir, Gott!" gilt also immer, auch in den alltäglichen Momenten des Lebens, nicht nur am Morgen, wenn ich aus dem Haus gehe, schon im Schlaf der Nacht und beim Erwachen, beim Waschen und Anziehen, beim Essen, einfach immer und überall. Wäre .ich mir dieser Allgegenwart Gottes besser bewusst, wie viel in meinem Leben würde sich ändern! Nein, nicht dass ich meinen Beruf aufgeben, meinen Ehepartner verlassen, oder sonst irgendetwas Großes oder Außerordentliches tun müsste. Das Leben ginge ganz normal weiter. Und doch wäre alles ein wenig anders, ein wenig überlegter, ein wenig bewusster, etwas weniger egozentrisch. Mein kleines "Ich" wäre dann plötzlich nicht mehr so oft allein wichtig. Es gäbe da noch ein anderes "Ich", ein "Du", das bei mir, das neben mir ist, das mich begleitet.
Dieses ständige Gottesbewusstsein aber ist nicht einfach und schon gar nicht in kurzer Zeit lernbar. Darum folgt dem "Du bist bei mir!" immer auch gleich die Bitte: "Bleibe Du bei mir!" Das ist kein Widerspruch. Gott ist bei mir, immer und überall. Aber er muss in meinem Bewusstsein bleiben, er muss mich in einem gewissen Sinn immer wieder an seine Gegenwart erinnern. Ich habe vor kurzem einmal einem frisch verliebten Paar zugeschaut. In regelmäßigen Abständen fragten sie sich: "Hast Du mich immer noch gern?" Es war ein ständiges sich dem anderen in Erinnerung rufen. Irgendwie habe auch ich es nötig, dass sich Gott mir immer wieder in Erinnerung ruft. Er tut dies auch, auf vielfältige Art und Weise. Wenn ich nun bete: "Bleibe Du bei mir!", dann ist dies nichts anderes als der Versuch, aufmerksam zu werden auf das "Hast Du mich immer noch gern?" Gottes an mich.
Ein anderes noch lehrt mich dieses Bild des verliebten Paares. Immer wieder passieren Dinge, die der andere nicht besonders schätzt, die er vielleicht sogar falsch versteht. In dieser Situation den anderen zu akzeptieren, gilt auch bei Gott. Auch er erinnert sich uns manchmal durch Situationen, die wir nicht besonders schätzen, auch ihn können wir nicht immer verstehen. Aber selbst dann sollte ich die Stimme hören: "Hast du mich immer noch gern?" Eigentlich sollte ich in jeder Situation diese Stimme hören. Und dies lässt sich üben. Begonnen habe ich persönlich damit, dass ich mich fragte, warum ich mich eigentlich so sehr dafür interessiere, was schon wieder passiert sei, wenn ich das Jakobshorn der Polizei oder der Feuerwehr hörte. Dann habe ich mich bemüht jedes Mal zu beten, Gott möge diesen Einsatz segnen, diejenigen, die ihn leisten und diejenigen, die davon betroffen sind. Wenn mir das gelang, dann war meine Neugierde schnell einmal vorbei. "Du bist bei mir!". Das Bewusstsein, dass dieses Du auch bei den anderen ist, hilft, mich nicht einzumischen, wo ich nichts zu suchen habe, wo es mich nichts angeht, wo ich nur hinderlich wäre.
Solche Übungen, lassen sich auch in anderen Situationen verwirklichen. Einen Menschen, der mir auf den Nerv geht, Gott zu empfehlen, ist eine Möglichkeit; für das, was mich gerade jetzt erfreut, Gott zu danken, eine andere. Und jedes Mal, wenn mir so etwas gelingt, ergibt sich daraus ein ganz anderes, ein neues Lebensgefühl, ein Gefühl wie bei Jungverliebten. Dann merke ich, dass er zu mir sagt: "Hast Du mich immer noch gern?"
*
* * * *