Teil 1 Kapitel 8, Seite 39 ff
Glaube und Hoffnung sind die beiden ersten göttlichen Tugenden, wichtige, ja entscheidende Wege zur Heiligkeit. Die dritte, nicht minder wichtige, nicht minder entscheidende ist die Liebe. Doch was heißt Liebe, was heißt Liebe zu Gott?
Liebe ist heute ein schillernder Begriff geworden, der alles Mögliche bedeutet. Eine präzise, allgemein anerkannte Definition dürfte kaum erhältlich sein. Wenn ich so nachdenke, dann fällt mir zuerst ein: "Liebe ist Alterzentrismus". Ich weiß nicht, woher der Begriff stammt. Er drückt aber ziemlich gut aus, was ich meine. Liebe stellt den anderen in Zentrum. Liebe gibt dem anderen den Platz, den ich normalerweise für mich beanspruche. Wenn ich liebe, dann stelle ich mich auf den anderen ein, dann dreht sich mein Denken, Fühlen, Reden und Handeln um ihn. Dabei habe ich nie den Eindruck, dass ich selber zu kurz komme. Ja, diese Ausrichtung auf den anderen schenkt mir selber eine Erfüllung, die die Ausrichtung auf mich nicht zu geben vermag. Mein eigenes Ich, mein Leben, wird in einer solchen Liebe reicher, weiter, offener. Und dies um so mehr, je mehr der andere mir mit der gleichen Liebe erwidert.
Die Liebe zu Gott, so glaube ich, darf in diesem Sinn der Liebe zum Mitmenschen gleich sein. "Gottesliebe ist Theozentrismus", könnte man die obige Definition abwandeln. Diese Liebe stellt Gott ins Zentrum, lässt ihm den Platz in meinem Leben, den ich so gerne für mich selber beanspruche. "Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben" heißt doch nichts anderes als das. Wenn ich Gott liebe, dann dreht sich mein ganzes Denken, Fühlen, Reden und Handeln um ihn, und zwar mehr noch als bei der Liebe zu einem Menschen. Der andere ist mir immer ein Gegenüber. Das ist auch Gott. Aber Gott ist noch mehr, er ist gleichzeitig in mir und ich bin gleichzeitig in ihm. Gott ist zudem der Herr, das heißt größer, wichtiger, entscheidender als ich. Gerade deshalb komme ich in der Gottesliebe selber nicht zu kurz. Vielmehr schenkt mir diese Liebe Möglichkeiten, mich selbst zu entfalten, reicher, weiter, offener zu werden, nicht nur für das Irdische, Zeitliche, sondern auch für das Göttliche, Ewige, die mir die Liebe zum anderen nicht oder nur ansatzweise zu geben vermag.
Wer sich selber ehrlich beobachtet, merkt, dass nichts so eng, so eingeschränkt, so einseitig ist wie das eigene "Ich". Deshalb ist auch nichts so unmenschlich und grausam wie eben dieses "Ich". Meist merkt man das zuerst bei anderen, bei Menschen, die stark egozentrisch leben. Aber wenn ich ehrlich bin, dann sehe ich dies auch bei mir, weil dieser Egozentrismus in jedem Menschen steckt, weil auch ich darin keine Ausnahme mache. Deshalb verlangt Gott, dass ich ihn liebe, damit ich wegkomme vom Ich, damit ich meinen Stellenwert erkenne, weil ich seinen anerkenne, damit ich wahrhaft menschlich lebe. Gott zu lieben ist die vollkommenste Art, Mensch zu sein.
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